Schwierig?

Du denkst, dein Leben wäre schwierig, kompliziert, aussichtslos?

Lass mich dir was erzählen. Eine Geschichte, wie sie nur das Leben schreiben kann.

Ich bin aufgewachsen mit einer depressiven Mutter, das, was mir als erstes einfällt, ist, dass sie tagelang fast nicht aus dem Bett gekommen ist und wie sie im Bademantel heulend am Herd steht. Meine Mutter hatte selbst eine schwierige Kindheit, in der sie nie gesehen wurde, nie sein durfte. Während der Schwangerschaft mit mir ist sie an eine Psychologin geraten, die sie vollends ganz zerstört hat. Erst jetzt begreift sie die Zusammenhänge wirklich, so nach und nach. Verstrickt in Familien, wo sie von allen Seiten klein gemacht wurde, wo alle extrem weit weg von sich und daher künstlich waren, ist dauernd an allem verzweifelt. Daher konnte meine Mutter nur selten für mich da sein und ich fühlte mich schon früh nutzlos und unterlegen. Ich hatte vor allem und jedem Angst. Ganz schlimm vor den Klassenkameraden und vor dem nächsten Streit meiner Eltern, wie davor, dass meine Mutter ihre Dauerankündigung wahr macht und sich umbringt. Ich hatte immer auch meine kleinen Enklaven, beim Spielen in der großen Tanne, beim Töpfern in der Schule, auf dem Fahrrad. Ich war ein sehr leises Kind, das das Leben zu schätzen wusste, aber nie so richtig mit den anderen mitkam.
Dann, ich war gerade 12, gerade in die 6. Klasse gekommen, bin ich in eine andere Dimension abgebogen. Urplötzlich konnte ich aufgrund verschwommenen Sehens nicht mehr lesen. Ich bin ins Krankenhaus gekommen, von da in die neurologische Klinik, von da in die Kinderpsychiatrie und wieder zurück in die Neurologie. Das einzige, was war, war, dass alle immer ratloser wurden und dass es mir immer schlechter ging. So konnte ich vier Wochen nach meinem letzten Schultag nicht mehr richtig laufen, nicht mehr sprechen, nicht mehr schlucken und meine Arme nicht mehr gut gebrauchen. Die Ärzte fanden nichts, stellten nur wilde Theorien auf. So wurde ich bald als vor Schmerzen schreiendes Bündel entlassen, nicht fähig zu sprechen und kaum des Essens fähig. Passiertes Essen ging im Liegen halbwegs. Man kann sich vorstellen, dass die ohnehin nicht gerade einfache familiäre Situation dadurch nicht gerade einfacher wurde. Unterstützt durch diverse ambulante Therapien konnte ich einige Monate später wieder sprechen, im Sitzen essen und besser laufen. Da sich kein körperlicher Grund für meine Erkrankung finden ließ und ich schließlich psychisch alles andere als stabil war, schlug die Kinderpsychologin des hiesigen Krankenhauses vor, dass ich mich in der Kinderpsychiatrie vorstellen könne. Was wir dann so gemacht haben. Tja und so war ich dann fast zwei Jahre lang in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und habe mich dort erst gefunden und dann wieder verloren. In der Psychiatrie sind alle meine gespeicherten Ängste hoch gekommen, weswegen ich einerseits kaum lebensfähig und andererseits sehr sensibel war. Ich war dort ein Dreivierteljahr lang überwiegend in einem Zimmer was dazu geführt hat, dass ich das staunende Kind wiederentdecken durfte. Leider haben sie in der Psychiatrie weder meine Ängste noch mein Erwachen verstehen können, weswegen ich noch einmal versuchen durfte, in die Normalität abzubiegen. Im Anschluss an die Psychiatrie bin ich in die neu gegründete Intensivgruppe eines Kinderheims gekommen, wo ich gut aufgenommen und versorgt wurde. Dort habe ich mich immer mehr getraut, sogar in die Stadt gehen, um was einzukaufen, war genauso möglich, wie den anderen Ausflüge machen. Während ich die ersten Monate dort Hausunterricht bekommen habe, bin ich zum nächsten Schuljahr vom Kinderheim aus in die 9. Hauptschulklasse einer nahegelegenen Körperbehindertenschule gegangen. Mein Gehirn hat alles an angebotenem Wissen wie ein Schwamm aufgesaugt und so habe ich aus dem Stand heraus einen wirklich guten Hauptschulabschluss hingelegt. Danach bin ich auf ein Internat für Körperbehinderte gegangen, um zuerst die mittlere Reife in Form der Wirtschaftsschule zu machen und anschließend das Abitur in Form des Wirtschaftsgymnasiums. So objektiv betrachtet lief in der ganzen Zeit im Internat alles wirklich gut. Nur leider habe ich mich während der ganzen Zeit immer mehr von mir selbst entfernt, bis ich am Ende zu einem großen Teil davon bestimmt war, dass ich Angst um meine Noten hatte und dafür alles getan habe. Das war rückblickend betrachtet eine ganz schön heftige Entwicklung. Wurde ich ein Jahr vor dem Abitur gefragt, was ich nach der Schule machen möchte, habe ich gesagt, alles, nur nicht Informatik. In was habe ich nun einen Abschluss und worin arbeite ich seit dem Studium? Richtig, Informatik. Das geliebte Ausschlussverfahren. Durch meine Behinderung dachte ich, dass vieles wegfiele und ich etwas mit dem Kopf machen müsse und da ich beim tehnischen Redakteur aufgrund der Rahmenbedingungen kalte Füße bekommen und der Wirtschaftsingenieurprof mir abgeraten hatte, bin ich bei Informatik gelandet. Weil ich das trotz meiner Behinderung machen kann, weil es was mit Zukunft ist und weil man gut verdient. Tja. Während des Studiums ging es mir immer mehr oder weniger bescheiden, durchgezogen habe ich es natürlich trotzdem, bei sehr guten Noten, versteht sich.
Gegen Ende meiner Schulzeit stellte sich langsam konkret heraus, was meine Behinderung auf physischer Ebene begründet hat: Ein ganz seltener Gendefekt, den es in genau dieser Form einmal gibt. Weltweit. Das wurde zur Gewissheit mit dem Ergebnis der genetischen Untersuchung, das ich ziemlich zu Beginn meines Studiums erhalten habe. Das war einerseits ein ganz schön komisches Gefühl, andererseits aber auch eine große Erleichterung, da nun endlich das Damoklesschwert der reinen psychischen Begründung wegfiel. 12 Jahre nach Ausbruch. Die Ärzte, die die Genuntersuchung in die Wege geleitet hatten, rieten mir stark zur sogenannten Tiefenhirnstimulation. Eine Methode, bei der der betroffene Bereich des Gehirns mittels elektrischer Impulse dergestalt angeregt werden soll, dass die körperlichen Symptome stark nachlassen. Ich habe mich dieser OP trotz eines ganz miesen Gefühls im Vorfeld unterzogen, mit dem Ergebnis, dass es mir in den Monaten nach der OP oft schlechter als vorher ging und ich fast schon süchtig nach der nächsten Einstellung war. Bis ich schließlich die Nase voll hatte und das Gerät für circa ein Jahr ganz ausgeschalet ließ.
Während des Studiums und danach arbeitete ich in drei verschiedenen Firmen. Bei der zweiten Firma, bei der ich meine zweite Abschlussarbeit geschrieben habe, arbeite ich seit dreieinhalb Jahren wieder und seitdem in Vollzeitanstellung. Anfangs und eigentlich bis vor kurzem ging es mir nie gut auf der Arbeit. Ständig Angst, Überforderung und Lageweile. Seit einigen Monaten wendet sich das jedoch, da meine Angst immer mehr wegfällt.
Meine letzte Umkehr zum Leben ist durch eine Helferin ausgelöst worden, mit der ich mich vor 2 – 3 Jahren so sehr verhakt habe, dass es mir monatelang richtig schecht ging.

Bei all diesen Punkten ging es mir so schlecht, dass das auch anders hätte ausgehen können. Ist es aber nicht. Was bedeutet, dass das Leben, das ich bin, noh was mit mir vorhat. Das darf ich immer wieder spüren. Es ist so schön, zu spüren, dass alles, was passiert ist, einen Sinn hat. So, wie heute Morgen. Nachdem es mir vorgestern gar nicht gut ging. Da hatte ich das Gefühl, dass mir der Brustkasten aufgerissen wurde, in dieses Gefühl habe ich mich vertieft. Ich konnte und wollte kaum aufstehen. Abends bin ich dann vor dem Fernseher versackt und habe immer bei Beziehungsszenen einen Heulkrampf bekommen. Das war mein Heiligabend. Er war genau so richtig und wichtig. Solche Tage sind es nämlich, wegen denen wir wachsen. Danach fühle ich mich manchmal wie Mario, nachdem er einen Pilz gefunden hat: Ein ganzes Stück größer.

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